Jahrbuch 2012 des Landkreises Marburg-Biedenkopf

Von Schulden, Streithändeln und großem Scharfsinn

Michail W. Lomonossow gründete die Moskauer Universität und heiratete eine Marburgerin
Von Gesa Coordes

Als Ljudmila Putina, Ehefrau des früheren russischen Präsidenten Putin, das alte Fachwerkhaus in der Marburger Oberstadt besichtigte, floh die Lomonossow-WG: „Da standen hier Hundertschaften von Polizei. In der Gasse war sonst niemand mehr“, sagt Andreas Götz. Der Kunsthistoriker wohnt da, wo der berühmteste russische Student Marburgs einst logierte: In dem mehr als 400 Jahre alten Kaufmannshaus in der Wendelgasse, einer winzigen, steilen Seitengasse der Barfüßer Straße.

Der berühmte Universalgelehrte und Gründer der Moskauer Universität lebte hier zur Untermiete bei der Brauerfamilie Zilch. Bis heute beschert dies den Mietern – zwei studentischen Wohngemeinschaften - ein ständiges Kommen und Gehen auf der Gasse: Im Sommerhalbjahr sind zehn Besuchergruppen an einem Samstagvormittag ganz normal. „Bei geöffnetem Fenster eine Arbeit zu schreiben, ist schwierig“, sagt Götz. Mitunter tapsen die Neugierigen auch einfach in den großen Hausflur oder steigen gar die steile Stiege zur WG hinauf.

Als der vor 300 Jahren geborene Michail W. Lomonossow am 3. November 1736 nach Marburg kam, sah die Stadt allerdings noch anders aus. Höchstens 400 Studierende hatte die Alma Mater Philippina, die Studierende aus dem gesamten protestantischen Europa anzog. Zum Lesen ging Lomonossow in die nahegelegene Universitätsbibliothek, die damals im heutigen Institut für Wirtschaftswissenschaften am Plan untergebracht war. Tanz- und Fechtunterricht nahm er im Rathaus.

Zu Lomonossows Studienzeit lockte vor allem der Philosoph Christian Wolff, der enge Kontakte zur russischen Gelehrtenwelt hatte. Der damals 25-jährige Lomonossow sollte gemeinsam mit zwei Kommilitonen an der Universität Freiberg zu einem Bergfachmann ausgebildet werden, in Marburg jedoch eine umfassende Allgemeinbildung erhalten und Deutsch lernen.

„Hier hat seine Karriere begonnen“, urteilt die Slawistin und Archivarin Dr. Inge Auerbach. Michail W. Lomonossow war nämlich im Gegensatz zu den vielen Kommilitonen nicht adelig. Als Sohn eines Fischers aus dem hohen Norden Russlands er war gegen den Willen seiner Familie zu Fuß 1000 Kilometer nach Moskau gegangen, um die höhere Schule zu besuchen und hatte sich mühsam hochgearbeitet. „Wie man sich als Adeliger benimmt, lernte er hier“, sagt Auerbach.

Jeden Morgen kamen die drei Russen zu Professor Wolff. In seinem Haus am Marburger Marktplatz unterwies er sie in Mathematik, Politik, Jura, Chemie und Physik. Es gab auch einen Mittagstisch im professoralen Haus. Lomonossow muss schon damals großen Eindruck auf seinen Lehrer gemacht haben. Er sei der „aufgeweckteste Kopf“ unter den drei Russen, ein junger Mann von „außerordentlichem Scharfsinn“, schrieb Wolff, der ihn bald auch abends verköstigte.

Nachhaltigen Eindruck machten jedoch auch die Streiche des Trios, das offenbar gern und häufig trank. Bei Lomonossow gab es deshalb regelmäßig Bier und Hering zum Frühstück. Auch in „Streithändel“ geriet der russische Hüne oft. Einmal konnte Wolff seinen Lieblingsschüler nach einer Prügelei nur mit Mühe vor dem studentischen Karzer bewahren. Anstelle der drei Tage im Karzer musste Lomonossow eine Geldstrafe von drei Talern an die Bibliothek zahlen.

Mit Geld konnte das Trio aber offenbar auch nicht umgehen. Gleich mehrfach musste Wolff aushelfen, der sich darüber in St. Petersburg beschwerte. Als Lomonossow ging, sollen seine Schulden so hoch wie das Jahresgehalt eines Professors gewesen sein. Das Gros investierte er wohl in Bücher. Er war aber auch – so Wolff – „der Wollust zu sehr ergeben“ und hing an „Weibspersonen“.

Bekannt wurde vor allem seine Liaison zu Elisabeth Christine Zülch, der Tochter seines Vermieters, eines Bierbrauers und Seniors der reformierten Kirchengemeinde Marburgs. Im November 1739 bekam die 19-Jährige eine uneheliche Tochter, die sie Catharina Elisabeth taufte. Was für ein Drama das gewesen sein muss, lässt sich selbst anhand der nackten Fakten ahnen. Michail W. Lomossow war zu diesem Zeitpunkt bereits in Freiberg, schlüpfte jedoch nach einem Streit mit dem Freiberger Professor wieder in Marburg unter. Am 6. Juni 1740 wurde die „Muss-Ehe“ geschlossen. Doch der frisch gebackene Ehemann blieb nicht lange. Elisabeth Christine war schon wieder schwanger, als Lomonossow in Richtung St. Petersburg verschwand. Eine Adresse hinterließ er seiner Ehefrau nicht. Zurück in Russland soll er sogar verschwiegen haben, dass er überhaupt verheiratet ist.

Zwei Jahre wartete Elisabeth Christine auf ein Lebenszeichen ihres Mannes, bis sie sich schließlich bei russischen Gesandten nach dem Schicksal ihres Gatten erkundigte. Erst dann schickte Lomonossow, der an der Petersburger Akademie arbeitete, 100 Rubel Reisegeld. Nur mit ihrer vierjährigen Tochter und ihrem jüngeren Bruder machte sie sich 1743 auf die monatelange Reise nach St. Petersburg. Wie sich die Eheleute dort begegneten, ist nicht überliefert. Russische Autobiographen schreiben jedoch, dass die Ehe dann ganz glücklich gewesen sein soll. 1749 wurde eine weitere Tochter namens Jelena geboren.

Die Lomonossow-WG kennt diese Geschichten zur Genüge. Sie hat auch ihre ganz eigene Vorstellung von berühmten Studenten: Daniel Klemm (geb. 1983), „blinder Gelehrter und Musiker“, wird auf der Tafel neben Lomonossow vorgestellt: „Ob er eine Universität gründen und eine Marburgerin heiraten wird, ist noch nicht klar“, schrieben sie ihm zum Abschied aus der Universitätsstadt: „Aber – soviel ist sicher – er wird Großes vollbringen. Lebte in diesem Haus von 2004 bis 2006 zum Zwecke des Medizinstudiums an der Philipps-Universität und freute sich wie heute seine Nachmieter, wenn Touristen auf der Gasse nicht lärmen.“