Frankfurter Rundschau
11.7.2009

Ohne Chef und Staat

Jörg Bergstedts hartnäckige Aktionen
Von Gesa Coordes

MARBURG. Die Zentrale der Gentechnikaktivisten sieht aus wie von Pippi Langstrumpf erfunden: Überlebensgroße Jahrmarktfiguren halten Plakate mit Titeln wie „Buntes Leben statt grauer Demokratie“. Plüschküken, Hasen, Drachen und Ernies hängen an völlig windschiefen Balustraden, auf die das Bauamt niemanden mehr klettern lässt. Orange-blau leuchtet das ehemalige Bauernhaus mit der Schönschrift „Ohne Chef und Staat“.

Auf der Treppe steht Jörg Bergstedt (45), bundesweit bekannter Anarchist und Ökoaktivist. Seit 1993 lebt er in der Projektwerkstatt im mittelhessischen Saasen bei Reiskirchen, die er gemeinsam mit wechselnden Mitstreitern zu einem wild verwinkelten Stützpunkt für widerständige Aktionen aller Art gemacht hat. Die Polizei interessiert sich vor allem für die „Redaktionsräume“ im Erdgeschoss und die „Sabotagewerkstatt“, die sich gleich hinter dem selbst gebauten Wintergarten mit hineinrankendem Wein verbirgt: Fußüberzieher, Schablonen, Sekundenkleber, Weihnachtskugeln, Wasserpistolen, Gips und Armfesseln zum Anketten an Betonblocks und Schienen sind hier bunt durcheinander gestapelt.

Wie viele Hausdurchsuchungen er bereits hinter sich hat, vermag Bergstedt gar nicht zu sagen. Auch die Zahl der Festnahmen kann er nicht mehr beziffern. Seit Mitte Juli beschäftigt er die Justiz erneut: Weil er gemeinsam mit drei Mitstreitern ein Versuchsfeld mit Gengerste zerstörte, steht er vor dem Landgericht Gießen. Vor laufender Kamera zerschnippelten die Aktivisten den Zaun des Versuchsfeldes der Justus-Liebig-Universität und rupften einen Teil der gentechnisch veränderten Pflanzen auf der nur 9,6 Quadratmeter großen Fläche aus. In der ersten Instanz wurde er zu einem halben Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. „Jetzt gibt das entweder eine hohe Verurteilung oder eine Einstellung des Verfahrens“, schätzt Bergstedt.

Aber das kann dauern, meint Reinhard Hübner von der Gießener Staatsanwaltschaft: „Dem fällt ja immer etwas Neues ein, wie er den Prozess sabotieren kann“, stöhnt der Jurist. Hübner erzählt von Zuschauern, die herausgetragen werden mussten, und Aktivisten, die die Fassade des Gerichtsgebäudes hochkletterten.

In der Tat möchte Bergstedt den Prozess auch diesmal am liebsten zu einem Forum für die Gentechnikgegner machen. Der Aktivist beruft sich auf rechtfertigenden Notstand. Er hält die Versuche der Forscher für „kriminell“. Sein Widerpart habe gegen viele Sicherheitsauflagen und Gentechnikgesetze verstoßen, behauptet Bergstedt.

Bei Auseinandersetzungen mit Justiz und Polizei kennt sich der 45-Jährige, der sich fast immer selbst verteidigt, inzwischen gut aus. Schließlich protestiert und demonstriert der Lehrersohn schon seit seiner Jugend in Norddeutschland gegen Atomkraft, Gentechnik, Polizeiwillkür und die Gefahrenabwehrverordnung. Im vergangenen Jahr hat er 32 Tage auf den Genfeldern der Republik verbracht. Im Kelsterbacher Wald hat er wochenlang mitgemacht. Die Projektwerkstatt steht allen Aktivisten offen: Seminarräume mit Chaosfaktor, eine verwinkelte Bibliothek und ein Lager mit 22 Betten.

Der abgebrochene Landschaftsökologiestudent sieht sich als „radikaler Herrschaftskritiker“. So radikal, dass er selbst Organisationen wie Attac scharf attackiert. Dass er mit den „blöden Hierarchien“ nicht klar kommt, räumt er selbst ein. Aus der Naturschutzjugend, dessen Bundesvorstand er einst angehörte, flog er schon 1990 heraus.

Bergstedts Spezialität ist die „Kommunikationsguerilla“, mit der er der Gießener Polizei mitunter den letzten Nerv raubte. Dahinter verbirgt sich eine Art politisches Theater, das auf den ersten Blick aber nur für Eingeweihte zu erkennen ist. Unfreiwillige Mitspieler wurden in vielen Fällen die Menschen in der Gießener Fußgängerzone, die er auf diese Weise gegen die Politik aufzubringen versucht. Lieblingsverkleidungen: Polizeiuniformen und Arztkittel. Gern verfremdet er auch die Wahlplakate aller Parteien und nimmt Innenminister Volker Bouffier aufs Korn. Das machte so oft und in so vielen Varianten, dass er nach eigenen Angaben achtmal bis zu sechs Tagen in Polizeigewahrsam landete.

Als Folge einer Aktion vor einem CDU-Wahlkampfstand mit Bouffier sollte er eigentlich acht Monate Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt absitzen. Doch das Bundesverfassungsgericht kassierte das Urteil, weil die Festnahme Bergstedts rechtswidrig war. „Er hat auch Fehler von Polizei und Justiz aufgedeckt“, räumt Staatsanwalt Hübner ein.

Gearbeitet hat der Politprovokateur nach eigenen Angaben nur einmal im Leben: Ende der 90er Jahren, als er wegen der Besetzung einer Golfplatzbaustelle im nahegelegenen Winnerod einen Monat lang im Knast saß, pflegte er die Grünanlagen des Gerichts. „Ich brauche fast kein Geld“, erklärt Bergstedt. Die Projektwerkstatt finanziert er aus dem Verkauf seiner zahlreichen Bücher und Broschüren. So schreibt er über eine Welt ohne Knäste, den Mythos Attac, Biotopschutz und kreative Widerstandsmethoden. Sich selbst ernährt er aus dem großen Garten und den Abfällen der Gesellschaft. Gerade hat er den Kühlschrank bis oben hin mit Joghurts, Käse und Rosmarinbutter gefüllt. Der hagere Anarchist ist darin Experte: „Das stammt alles direkt aus dem Müll eines einzigen Supermarkts.“