Frankfurter Rundschau
15.12.2004

Nur das Schnattern mag er nicht

Jürgen Winter ist der letzte Gänsehirt Hessens
Von Gesa Coordes

Nebel hängt über dem Treisbachtal. Jürgen Winter lässt den Blick über seine Gänse schweifen. Zwei suhlen sich in einem Tümpel. Eine Gruppe watschelt in Richtung Bundesstraße. Jürgen Winter treibt sie gemächlich mit einem Stock zurück.

Der 63-jährige Gänsehirt ist kein Mann von vielen Worten. Er stopft seine Pfeife und zieht genüsslich. Ja, die Arbeit gefällt ihm sehr, sagt er auf Nachfrage. Nur dass die Gänse so laut schnattern, mag er nicht.
Am schönsten findet er die Zeit des Sonnenaufgangs im Sommer. Doch auch im Winter friert er so wenig, dass er keine Handschuhe braucht: „Ich bin abgehärtet“, meint er.

Jürgen Winter hat sein Leben mit den Gänsen verbracht. Der leicht geistig behinderte Mann mit der dicken Brille, der seine Eltern in den Kriegswirren verlor, lebt schon seit seiner Jugend auf dem zum hessischen Diakoniezentrum Hephata gehörenden Hofgut Richerode. Schon als 15-Jähriger begann er mit dem Hüten von zunächst nur wenigen Gänsen. Seit 1991, seit die Landwirtschaft auf dem Hof wieder ausgebaut wurde, ist er Gänsehirt.

„Das ist hier ein hoch angesehener Arbeitsplatz“, erzählt der Betriebsleiter für die Landwirtschaft in Richerode, Frank Radu: „Jürgen hat das mit aufgebaut.“ Inzwischen hütet der 63-Jährige jedes Jahr 300 Gänse auf einer Fläche von sieben Hektar. Nur zur Mittagspause und am Wochenende wird er abgelöst.

In einer Arbeitsgruppe im Haus würde sich Jürgen Winter wohl schwer tun, vermutet Radu. Der Gänsehirt ist ein Einzelgänger. Und auf den Wiesen im Treisbachtal redet ihm keiner in seine Arbeit hinein. Er achtet darauf, dass die Tiere nicht von der Weide abkommen oder sich an der Böschung des Baches verfangen. An der Hand hat er eine Wunde. Die hat er sich geholt, als er zwei streitende Gänse auseinandertreiben wollte.

Jürgen Winter ist einer der letzten Gänsehirten Deutschlands. In Hessen ist er wohl sogar der einzige - dem Dienstleistungszentrum für Landwirtschaft ist jedenfalls kein weiterer Hirte bekannt. Dabei gab es bis in die 50er und 60er Jahre hinein in den Dörfern noch Hirten, die jeden Morgen die Gänse zusammentrieben und sie abends wieder zurück brachten. Auch diese Hirten seien oft geistig behindert gewesen, erzählt Radu. Doch mit der Veränderung der Dorfstruktur war für sie kein Platz mehr.

Richerode habe die alte Idee im Grunde wieder aufgegriffen. Anderswo würden die Tiere entweder nur im Stall oder auf umzäunten Weiden gehalten. Radu ist sich freilich sicher, dass das Fleisch aus der Hütehaltung besonders fest und schmackhaft ist.

Und auf Richerode gibt es auch weniger Probleme mit dem Fuchs. Der Rotschopf ist nämlich immer noch der größte Feind der Gänse. Selbst auf dem direkt am Kellerwald gelegenen Hofgut werden gelegentlich Gänse gerissen. Deswegen werden sie nachts in einen mit einem Elektrozaun gesicherten Stall getrieben. „Wir hatten jetzt eine Zeitlang Ruhe“, sagt Jürgen Winter.

Wie man Gänse essen kann, versteht der 63-Jährige nicht. Er ist jedes Jahr traurig, wenn seine Herde kurz vor Weihnachten geschlachtet wird: „Wenn man sich das ganze Jahr gekümmert hat, ist das nicht schön“, sagt er.

Doch die Biogänse leisten einen wichtigen Beitrag zum Betriebseinkommen des Hofguts. Die Kreuzung aus Diepholzer und Lippitscher ist bei den Kunden besonders beliebt. Es werden sogar Gänseessen ausgerichtet.

Nächstes Jahr im Mai beginnt Jürgen Winters letzte Gänsesaison. Weihnachten geht er dann in Rente. Frank Radu ist sich jedoch sicher, dass es einen Nachfolger für den Gänsehirten geben wird.
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Das Hofgut Richerode ist ein Biolandbetrieb, der schon seit 1911 zu Hephata gehört. Hier wohnen heute 42, vorwiegend geistig Behinderte, 30 kommen täglich zur Arbeit her. Sie versorgen 42 Mastbullen, zehn Zuchtsauen, 180 Ferkel, 500 Legehennen, 220 Masthähnchen und 300 Gänse. Zudem werden auf dem 82 Hektar großen Betrieb Futtergetreide, Kartoffeln und Gemüse angebaut. Einen Namen hat das Hofgut als Kartoffel- und Gemüseschälbetrieb für Großküchen wie Kliniken. Zudem werden Berglandkräuter gereinigt und verpackt sowie Fleisch, Wurst, Geflügel, Eier und Gemüse aus eigener Produktion in einem Hofladen verkauft.
Weitere Informationen im Hofladen des Hofguts Richerode: Tel. 06695-919901.