Rheinischer Merkur
27.2.2008

Nebel und Nässe waren sein Glück

Stephan Pfürtner: Der Staat Israel hat den Theologen zum Gerechten der Völker ernannt
Von Gesa Coordes

Sein Bäumchen in der Allee der Gerechten der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wird Stephan Pfürtner nicht mehr sehen. Der emeritierte Marburger Theologieprofessor ist zwar geistig hellwach, doch seine Beine tragen ihn nicht mehr. Nur mit einem Gehwagen schafft der 84-Jährige den kurzen Weg vom Frühstückstisch zum Schreibtisch. Deshalb hat er die höchste Ehrung des Staates Israel für Nicht-Juden auch nicht in Yad Vashem, sondern in Berlin erhalten. Weil er drei Jüdinnen zur Flucht verhalf, hat ihn der israelische Botschafter als „Gerechten unter den Völkern“ ausgezeichnet.

Der Held ist dem alten Herrn nicht anzusehen. Das faltig gewordene Gesicht mit der Brille und den wenigen weißen Haaren wirkt eher unauffällig. Doch wenn der Wissenschaftler erzählt, ist seine Gebrechlichkeit vergessen. Langsam und in weiten Bögen, aber sehr präsent, berichtet er von der Zeit, die auch sein Leben grundsätzlich verändert hat.

„Wir waren ursprünglich keine dezidierten NS-Gegner“, sagt der 84-Jährige. Der als Sohn einer siebenköpfigen Familie in Danzig aufgewachsene Pfürtner meldete sich noch vor dem Abitur freiwillig an die Front. Warum er den Befehl erhielt, noch auf Flüchtende zu schießen, verstand er allerdings schon damals nicht. Er feuerte einfach in die Luft.

1941 ging er zu einer Sanitäts-Einheit nach Lübeck, wo er Medizin studierte und sich einer Gesprächsgruppe mit katholischen Geistlichen anschloss. Ein Spitzel verriet die Gruppe. Pfürtner wurde von der Gestapo verhaftet. Der Vorwurf: Er hatte sich über Hermann Göring lustig gemacht und sich darüber empört, wie die SS gegen verwundete Polen vorgegangen war.

Das halbe Jahr in der Einzelhaft des Polizei-Gefängnisses von Lübeck beschreibt er heute noch als Wende in seinem Leben: „Ich hatte nur die Zelle, nichts zu schreiben, nichts zu lesen, keinen Besuch.“ Er stellte sich die Frage nach dem Sinn des Lebens und dachte an Selbstmord. Doch statt aufzugeben, entdeckte er in diesen Monaten der Angst seinen persönlichen Glauben.

Dass er den Nazis vor Gericht dann furchtlos begegnen konnte, erfüllt ihn noch heute mit Genugtuuung. Als einer der Angeklagten im so genannten Lübecker Christenprozess hatte er viel Glück. Sein Kompaniechef setzte sich für ihn ein. Er kam mit einer Gefängnisstrafe, Studienverbot und „Frontbewährung“ davon. Die drei katholischen Geistlichen des Gesprächskreises wurden wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Gemeinsam mit einem evangelischen Pfarrer wurden sie hingerichtet. „Mörderbande“, sagt Pfürtner leise. Er sieht zornig und traurig dabei aus.

Seine eigene Rolle im Widerstand spielt er herunter. Aber schon ein Jahr später bat ihn ein befreundeter Geistlicher, seine ins KZ Stutthof deportierte Sekretärin zu besuchen. Gerda Gottschalk war zum katholischen Glauben übergetreten, galt den Nazis aber als Halbjüdin. Der damals 22-jährige Stephan Pfürtner radelte die 50 Kilometer von seiner Heimatstadt Danzig zu dem Bauernhof an der Ostsee, wo sie gemeinsam mit zwei weiteren aus dem KZ abkommandierten Frauen bei der Ernte half. Inständig baten sie den jungen, bis dahin völlig unbekannten Besucher darum, ihnen bei der Flucht zu helfen. Dass Stutthof ein Vernichtungslager war, wusste Pfürtner damals noch nicht. Doch er organisierte ihre Flucht, fälschte Papiere, besorgte neue Kleider und beschaffte Perücken für die drei Frauen.

„Es war ein Freitag, Anfang November 1944“, erinnert er sich. Es war regnerisch, neblig und nass. Das war ein Glück, weil die Spürhunde der Gestapo keine Witterung aufnehmen konnten. Mit den gefälschten Papieren konnten die Frauen den Zug nach Danzig besteigen. Pfürtner holte sie vom Bahnhof ab. Die Halbjüdin Gottschalk wurde bei seiner Familie versteckt, Ida Levithan tauchte bei einem polnischen Freund unter. Ellen Laumann fuhr weiter nach Berlin. Alle drei Frauen haben die NS-Zeit überlebt.

Ellen Laumann wurde aber noch einmal aufgegriffen und ins KZ Theresienstadt deportiert. Erst heute weiß er, wie knapp er selbst den Nazis entkam. Nur, weil sie seinen Namen nicht kannte, konnte sie ihn unter der Folter der Häscher nicht verraten. Als er sie Jahre später wieder traf, war sie heilfroh darüber.

Mit Gerda Gottschalk hat Pfürtner bis heute Kontakt. Vier Monate lang blieb sie in ihrem Versteck in Pfürtners Elternhaus, bevor sie gemeinsam mit seiner Mutter nach Kopenhagen floh. Später hat sie viele Jahre als Sekretärin in der juristischen Fakultät der Uni Konstanz gearbeitet. Eine Familie hat sie nie gegründet. „Mir ist an ihrem Schicksal deutlich geworden, was der Einbruch der Nazis bis in das private Leben hinein bedeutete“, sagt Pfürtner.

Das gilt auch für ihn selbst. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit trat er in den Dominikanerorden ein, dem er fast 30 Jahre lang angehörte. Er wurde Professor für Moraltheologie an der Universität Fribourg in der Schweiz. Doch auch als Priester blieb er streitbar. Weil er sich für einen „Vorraum der Ehe“, Homosexuelle und empfängnisverhütende Mittel einsetzte, geriet er so massiv in Konflikt mit der römischen Glaubenskongregation, dass er 1974 demissionierte und aus dem Orden austrat.

Bald darauf fand er privates Glück an der Seite seiner heutigen Ehefrau, der Ärztin Irmgard Bloos, die dem Besucher mit vergnügtem Schwung die Tür öffnet. Zwei Kinder hat das Paar. Und er wurde zu einem Unikum an der Marburger Universität. Dort lehrte der Katholik von 1975 bis 1988 am Fachbereich Evangelische Theologie. Pfürtner: „Ich hätte an keiner katholischen Hochschule auf der Welt mehr eine Stelle bekommen.“